Kolumne für Kontertext

Text: Anni Lanz


Die Morde von Solingen beleben wieder einmal die Anti-Asyl-Politik. Der Hass wird dadurch nicht vermindert.

«Islamexperte: Staat muss Geflüchtete vor Ort besser kontrollieren» las mein Mitbewohner auf der Frontseite des Tages-Anzeigers vom 27. August und kritisierte die Oberflächlichkeit medialer Reaktionen auf die kürzlich in Solingen verübte Bluttat eines junges Syrers. Jedes Mal, wenn ein junger Mann wehrlose Menschen im öffentlichen Raum attackiert, folgen in der Öffentlichkeit dieselben Reaktionen, vor allem, wenn dieser dem Islam zugeordnet wird: Die gewöhnlichen Menschen legen Blumen auf den Tatort. Die Rechte fordert radikale Massnahmen gegen Einwandernde, und andere Politiker versuchen,  den Rechten den Wind aus den Segeln zu nehmen, indem sie bei der Politik gegen Einwandernde mitmachen.

Man kann manchmal auch anders

Allerdings kommt es offenbar doch sehr darauf an, wer Messer trägt. Dass man auf Messerstechereien auch ganz anders reagieren kann, zeigte die Basler Polizei vor wenigen Monaten. Sie startete eine Präventions- und Sensibilisierungskampagne mit dem Ziel, Jugendliche davon abzuhalten, das Messer in den Ausgang mitzunehmen. In der Stadt hingen überall Plakate mit dem Text «Dini Muetter will dich nid im Knascht bsueche». Es gab Aufklärung und Ratschläge für Eltern, Betroffene, Angehörige.

Entlarvend ist der Vorwurf, der in Diskussion um Solingen oft erhoben wird, dass nämlich der Täter nicht nach Bulgarien ausgeschafft worden sei. Als ob der dreifache Mord weniger schlimm gewesen wäre, wenn er in Bulgarien stattgefunden hätte.

Was heisst hier Kontrolle?

Von «Kontrolle» reden alle. Die Schlussfolgerungen des Islamwissenschaftlers Reinhard Schulze im Tages-Anzeiger sind allerdings um einiges tiefgründiger als diejenige der Deutschen Regierung, die neben einem Messerverbot «erleichterte Ausschaffungen», die «Streichung von Leistungen für bestimmte Asylsuchende» und «einfachere Identifizierung» in Aussicht stellt. Was Schulze unter «mehr staatlicher Kontrolle vor Ort» versteht, wird in seinem Tages-Anzeiger-Interview zwar nicht ganz klar,  scheint  jedoch etwas völlig anderes zu sein als die von der Regierung geforderte Kontrolle. Er meint damit wohl das frühzeitige Erkennen von prekären Biographien. Es reiche nicht, sagt er, die Geflüchteten in von Sicherheitskräften überwachten Asylunterkünfte zu stecken. „Einfach mit Kleidung und Unterkunft ist es nicht getan.“ Schulze plädiert für mehr integrativen Aufwand, die Politik für dessen Abbau. 

Unrechtserfahrungen

Mein Mitbewohner schildert mir, was in einem Menschen vorgeht, der von einer Spirale des Hasses erfasst wird. Wie es sich anfühlt, dauernd benachteiligt und übergangen zu werden. Kürzlich wurde er von seinem Sozialarbeiter im Kanton Aargau aufs übelste beschimpft und mit Hasswörter eingedeckt, die mein Mitbewohner aus Scham nicht aussprechen mochte. Daraufhin wurde er eine Woche lang krank. Seine ganze Umwelt schien ihm hassenswert. Doch er hat ein soziales Umfeld von verständnisvollen Menschen und sucht in philosophischen Texten nach Antworten auf seine Erfahrungen. Damit schrumpfte diese tumultuöse Aufgebrachtheit auf einen kleinen Fleck der Verletztheit zusammen. Es gibt aber Andere, die keinen Zugang zu verständnisvollen Menschen und philosophischen Texten haben. Und sie geraten womöglich noch unter den Einfluss brauner oder islamistischer Fanatiker, werden von ihnen in sinnlose Gewalttaten gehetzt. Wie auch immer: Der Kern von im Blutrausch begangenem Terror ist der Hass, der durch als Unrecht erfahrene Begebenheiten ständig genährt wird. Meint mein Mitbewohner. Ein Experte ist auch er, der Geflüchtete, der selbst viel Unrecht erfahren hat in einer befremdenden Umgebung.

Reinhard Schulze erwähnt auch die erdrückende Bürokratie, die zu gewaltsamen Reaktionen führen kann. Da geben wir ihm recht. Ich erfahre sie selbst als Rechtsvertretende von Geflüchteten, die gegen unsinnige Verbote für Zugewanderte kämpft und mit unsinnigen Antworten abgespiesen wird. Diese sind Früchte einer Hass schürenden Abschreckungspolitik gegenüber «Ausländern». Sie provozieren Wut. Bei den Betroffenen führen sie zu Verletzungen, die nur durch Empathie geheilt werden können. Wenn ich an das verlogene europaweite Abwehrsystem der Rücknahmeabkommen mit korrupten Regierungen denke, die den reichen Ländern die Flüchtlinge entsorgen, wundert es mich, dass es hierzulande nicht zu mehr Racheakten kommt. Die Ausschaffungshäftlinge, die ich wöchentlich besuche, hätten Grund genug, sich verbittert gegen uns zu wenden.

Plädoyer für Gutmenschen

Die Hauptaufgabe einer reflektierenden Zivilgesellschaft sehe ich darin, gegen hiesiges Unrecht und hiesigen Fanatismus anzugehen, ohne selbst dem Unrecht und dem Fanatismus zu verfallen. Solches Engagement besteht auch aus Erinnerungsarbeit. Wir erleben gerade, wie ein Symbol uminterpretiert wird. Vor kurzem noch stand «Solingen» für Gewalt gegen Einwandernde und Schutzsuchende. Heute wird die Chiffre überschrieben. «Solingen» soll, geschichtslos, für Gewalt von Asylsuchenden stehen. 

In der gegenwärtigen Diskussion ist es nahezu unmöglich, den hassschürende Rechtsextremismus, den Brandanschlag gegen Geflüchtete in Sachsen und die Grossdemonstrationen gegen Fremdenfeindlichkeit im vergangenen August zu erwähnen, die doch ein Hoffnungsschimmer waren und unsere Anerkennung verdienen, auch wenn sich die irren Racheakte von Diskriminierten, wie ich das oft erlebe,  schliesslich gegen die Solidarischen richten können. Fanatismus spriesst überall und ist keine besondere Eigenschaft von Menschen aus islamischen Ländern. Das oft verpönte besonnene «Gutmenschentum» verhindert durch empathisches Verhalten, dass sich Ablehnung und Hass ungebremst ausbreiten. Es braucht uns.